Vincent Burkhard (Name geändert) scheinen die Gedanken im Kopf herumzuschwirren. Er redet schnell, stockt, beginnt den Satz von neuem. Als müsste er die Worte erst zu fassen kriegen, bevor er sie ausspricht. Das ist typisch. Vincent Burkhard hat ADHS, er ist hyperaktiv.
Es begann in der Kindheit: «Es war zum Beispiel eine Tortur, mich auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren», erinnert sich der 48-Jährige. Bis er aber wusste, warum das so war, vergingen Jahrzehnte. «Erst meine Frau vermutete, dass ich eine Aufmerksamkeitsstörung haben könnte, und riet mir, das abzuklären», sagt er.
Als die Diagnose feststand, verschrieben ihm die Ärzte Ritalin. Geholfen hat es nicht. «Mit dem Medikament erlebte ich ein ständiges Auf und Ab.» Die Wirkung habe schnell eingesetzt und dann viel zu schnell wieder nachgelassen.
Schlechte Erfahrungen mit Ritalin machte auch der 49-jährige Rolf Zimmermann aus Zürich. Auch er leidet an einer Form von ADHS. Er lässt sich leicht ablenken und kann sich schlecht längere Zeit konzentrieren. «Ich bekam von Ritalin zittrige Hände, Schlafprobleme und Muskelkrämpfe», sagt er.
Nicht nur wegen solcher Nebenwirkungen ist Ritalin in der Kritik. Eine neue Studie lässt auch Zweifel daran aufkommen, ob das Medikament überhaupt wirkt. Fachleute des Forschernetzwerks Cochrane Collaboration werteten 185 Studien aus. Ihr Fazit: Der Nutzen von Ritalin sei bis heute kaum belegt. So seien mehr als ein Drittel der Studien von der Pharmaindustrie finanziert. Und auch die anderen Studien hätten viele Schwächen. Die Teilnehmenden wussten zum Beispiel, ob sie Ritalin erhielten oder ein Scheinmedikament. Das verfälschte die Resultate.
«Unruhige Kinder brauchen klare Regeln»
Wer kein Ritalin nehmen möchte, hat verschiedene Alternativen: Bereits der richtige Umgang mit unruhigen Kindern sei wichtig, sagt die Psychotherapeutin Judith Barben aus Wil SG, die sich auf Kindertherapie spezialisiert hat. «Sie brauchen Zuwendung und klare Regeln. Sonst fehlt ihnen die Orientierung.»
Ein Beispiel: Viele Hyperaktive sind mit ihrem Alltag überfordert. Etwa, wenn sie Hausaufgaben machen. Sie lassen sich zu schnell ablenken. Besser ist es deshalb, wenn die Eltern ihnen helfen.
Oder: Betroffene Kinder haben oft Mühe, ihr Zimmer aufzuräumen. Statt aber ständig hinterherzuräumen, ist es besser, wenn die Eltern klare Aufräumzeiten bestimmen, die strikt eingehalten werden. Genauso wichtig ist aber auch, dass sich die Kinder zwischendurch bewegen und austoben können.
Barben sagt, nicht jedes unruhige Kind habe ADHS. Bei manchen Kindern lösten schlicht die fehlende Struktur und Orientierung von Seiten der Erwachsenen Unsicherheit und Unruhe aus. Barben stellt deshalb die Diagnose ADHS grundsätzlich in Frage.
Oft brauchen Betroffene auch Hilfe von Fachleuten. Vincent Burkhard machte zum Beispiel gute Erfahrungen mit dem kognitiven Verhaltenstraining. Dabei lernen Betroffene, sich Gedanken über ihr Verhalten zu machen und es zu steuern. Daniel Marti, Kinder- und Jugendpsychiater am Kinderspital Zürich, sagt: «Kinder und Erwachsene lernen bei einer Verhaltenstherapie, ihre Impulse besser zu kontrollieren.»
Vincent Burkhard beschreibt es so: «Wenn nichts lief, war mir früher sofort langweilig.» Diese Langeweile zu ertragen, war für ihn fast unmöglich. In der Verhaltenstherapie musste er sich zuerst beobachten, ohne sein Verhalten zu bewerten. «Zentral waren dabei die Fragen: Was geschieht mit mir, wenn mir langweilig ist? Und wieso ertrage ich das nicht?» Danach lernte er, seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. «Ich erkannte, dass Ruhe und Langeweile erstrebenswerte Dinge im Leben sind, und dass ich sie sehr gut aushalten kann.» Heute macht ihm die Ruhe viel weniger zu schaffen.
Studie: Homöopathie kann bei ADHS helfen
Eine kleine Studie der Universität Bern deutet darauf hin, dass sich auch die Homöopathie zur Behandlung von ADHS eignet. Während 19 Monaten hatten die Forscher über 60 Kinder homöopathisch behandelt. Das Resultat: Zwei Drittel waren danach weniger hyperaktiv, impulsiv und aggressiv.
Ähnliches erlebt die Gesundheitstipp-Ärztin und Homöopathin Stephanie Wolff bei ihren Patienten: «Ich kann die Ergebnisse der Studie nur bestätigen.» Wolff rät aber davon ab, sich selber zu behandeln. «Ein Homöopath muss die Mittel für Betroffene einzeln zusammenstellen.»
Rolf Zimmermann hat unter anderem mit Kinesiologie gute Erfahrungen gemacht. Dabei verbessert man mit gezielten Übungen die Hirnaktivität. «Vor Prüfungen war ich früher völlig gelähmt vor Angst», sagt er. In der Kinesiologie habe er mit Körperübungen gelernt, sich zu beruhigen und zu konzentrieren. Ein Beispiel für eine solche Übung: Man zeichnet mit den Händen eine liegende Acht in die Luft.
Zimmermann macht zudem auch autogenes Training. Dabei lernt er, mit seinen Gedanken Körper und Geist zu beruhigen. Etwa, indem er sich vorstellt, dass Arme und Beine ganz schwer werden. «So kann ich mich wunderbar erholen.»
Der Psychiater Daniel Marti ist überzeugt, dass Neurofeedback einen positiven Effekt haben kann. Das ist ein Hirntraining am Computer, das besonders für Kinder im Schulalter geeignet ist. Dabei läuft am Bildschirm ein Film. Gleichzeitig messen Elektroden die Hirnströme, um festzustellen, ob sich das Kind auf den Film konzentriert. Ist das nicht der Fall, bleibt der Film stehen und läuft erst weiter, wenn die Aufmerksamkeit des Kindes erneut beim Film ist. So lernt es, sich zu konzentrieren.
Vincent Burkhard hat gelernt, mit ADHS zu leben. Nach wie vor erlebt er zwar Momente, in denen er alles gleichzeitig machen möchte. Aber er sieht auch die Stärken: Er sehe oft Zusammenhänge, die andere nicht erkennen. «Und in einer Situation, wenn schnelle Entscheidungen gefragt sind, funktioniere ich extrem gut.»