Geht es nach den Verantwortlichen der Invalidenversicherung (IV), erhält M. D. bald keine Rente mehr. Die 33-jährige Zürcherin leidet ständig an Schmerzen am ganzen Körper, hat Atemnot, kann nur mit Mühe aufstehen, stürzt immer wieder, hat Depressionen und Angstattacken. Die Ärzte fanden keine organischen Ursachen für diese Symptome. Sie diagnostizierten die Schmerzerkrankung Fibromyalgie. «Ich leide sehr unter dieser Krankheit», sagt M. D., «und ich kann beim besten Willen nicht arbeiten.» Sie musste ihre Stelle als Küchenhilfe aufgeben. Seit sechs Jahren bezieht sie eine IV-Rente. Ohne dieses Geld müsste sie zur Fürsorge.
4500 Bezüger mit Schmerzstörungen erhalten gegenwärtig IV-Renten. Das wollen die IV-Behörden nun mit der sechsten IV-Revision ändern. Diese sieht eine Gesetzesänderung vor, um alle bisherigen Renten mit solchen Diagnosen neu zu überprüfen. Was harmlos klingt, bedeutet für die meisten Schmerzpatienten, dass sie die Rente verlieren werden. Das Bundesgericht hat vor fünf Jahren entschieden, dass dauernde Schmerzen allein nicht ausreichen, um als erwerbsunfähig zu gelten und eine IV-Rente zu bekommen.
Leistungsabbau auf Kosten von Menschen mit Schmerzstörungen
Die IV-Manager wollen von 2012 bis 2018 weitere 8000 Renten streichen. Die IV soll verstärkt die «Wiedereingliederung von Personen mit Eingliederungspotenzial» fördern. Die Versicherung hat junge Rentner im Visier, psychisch Kranke und andere Bezüger, deren Gesundheitszustand schwankt. Ebenso Bezüger, die heute keine Rente mehr zugesprochen bekämen, etwa nicht schwer Depressive. Die «Rentenrevision» soll der Versicherung ab 2018 Einsparungen von 230 Millionen Franken im Jahr bringen. Mitte Oktober endete die Vernehmlassung für diese Gesetzesrevision.
Behindertenverbände und der Ärzteverband FMH lehnen die Sparpläne auf Kosten chronisch Kranker ab. Die FMH sieht in der Streichung der Renten von Versicherten mit Schmerzstörungen die «Stigmatisierung einer Patientengruppe». Dabei handle es sich eindeutig um eine Krankheit, auch die Weltgesundheitsorganisation anerkennt die Diagnose als Krankheit. Viele Ärzte erleben in der Praxis laut FMH-Präsident Jacques de Haller, wie Betroffene leiden und beruflich eingeschränkt seien. De Haller warnt: «Wenn man mit Schmerzpatienten anfängt, wird man bald weitere Gruppen von Kranken als IV-Bezüger ausklammern.» Tatsächlich wäre es eine Premiere: Erstmals würde eine medizinisch diagnostizierte Krankheit von den politischen Behörden nicht mehr als solche anerkannt.
«Es geht ums Sparen und nicht um die Wiedereingliederung»
Die Stiftung Pro Mente Sana kritisiert die Sparvorgabe von 12'500 Renten als «Angriff auf die psychisch Kranken». Dies werde zur Ausgrenzung von Menschen mit psychischen Behinderungen führen. Der Behindertenverband stösst sich auch daran, dass die IV bei chronischen Schmerzen korrekte Urteile früherer Jahre aufheben will. «Das ist ein Verstoss gegen die Rechtssicherheit», sagt Christoph Lüthy von Pro Mente Sana.
Genauso argumentiert die Dachorganisation der privaten Behindertenhilfe. Gemäss den Verbänden droht die «Rentenrevision», viele bisherige IV-Rentner in die Sozialhilfe abzudrängen. «Warum sollen sie plötzlich arbeiten können, wenn sie das vor Jahren schon nicht konnten?», fragt Niklas Baer, Leiter der Rehabilitationsstelle der Psychiatrischen Dienste Baselland. Die Schmerzen vieler Rentner seien längst chronisch, ihre oft geringen Berufskenntnisse überholt, Jobs nicht zu erhalten. Für Baer geht es «bei den IV-Plänen daher nicht primär um die wünschenswerte Wiedereingliederung, sondern ums Sparen».
Deutschland und Österreich anerkennen die Diagnose
Eine solche Streichung ist für deutsche und österreichische Rentenanstalten undenkbar. «Selbstverständlich werden auf der Grundlage ärztlich diagnostizierter Schmerzstörungen und Fibromyalgien Renten vergeben», erklärt Walter Glanz, Sprecher der Deutschen Rentenversicherung. Im Jahr 2008 gab es 6133 Neuzugänge. Auch der Chefarzt der österreichischen Pensionsversicherungsanstalt Rudolf Müller lehnt eine Streichung ab: Der Hauptgrund für eine Rente sei die Minderung der Erwerbsfähigkeit. «Daher ist es nicht sinnvoll, Krankheitsbilder zu streichen, die zur Minderung führen.»