Claudia beobachtet kleine Dinge ganz genau. Sie freut sich wie ein Kind, wenn der Schnee unter den Schuhen knirscht. Sie lacht herzhaft, wenn sie etwas komisch findet, und hört fürs Leben gerne klassische Musik. Ihre Begeisterung steckt an und ich geniesse diese Momente mit ihr. Doch trotz ihrer sonnigen Seiten hat mich meine Tochter schon oft an den Rand der Verzweiflung gebracht.
Denn der Alltag mit ihr ist anstrengend. Claudia ist jetzt 42 Jahre alt, kann nicht sprechen und sich weder selber anziehen noch pflegen. Nach jahrelangem Training kann sie mittlerweile kleine Brot-, Wurst- und Käsestücke mit einem Speziallöffel essen und aus einem Spezialbecher trinken. Wenn sie nervös ist, dreht sie sich im Kreis, immer wieder. Oft beisst sie sich in eine Hand und schlägt mit der andern Hand an den Kopf. So zeigt sie, dass sie Hunger, Durst oder Schmerzen hat. Meist kann ich sie trösten, indem ich sie in meine Arme schliesse.
Claudia hat das Rett-Syndrom, eine Genveränderung. Mein Mann und ich erfuhren das erst, als sie 16 Jahre alt war war. Sie ist geistig und körperlich schwerbehindert. Dabei kam Claudia scheinbar gesund zur Welt und entwickelte sich zunächst altersgerecht. Ich erinnere mich, wie glücklich wir ihren ersten Worten lauschten. Claudia war zwei Jahre alt, als es anfing: Sie wurde unruhig und unzufrieden, jeden Tag verhielt sie sich auffälliger. Es gelang ihr nicht mehr, ihre Bauklötzchen aufeinanderzustapeln, sie konnte ihren Puppenwagen nicht mehr schieben.
Ihr kleiner Wortschatz ging total verloren, sie gab nur noch Laute von sich. Es war furchtbar für uns Eltern, das mit anzusehen: Innert eines Vierteljahres verlernte Claudia das meiste, was sie zuvor konnte. Die Kleine spürte, dass etwas mit ihr passierte. Sie bewegte sich pausenlos, knetete ihre Hände und knirschte stundenlang mit den Zähnen. Sie schien ihre Umwelt kaum noch wahrzunehmen und wirkte autistisch. Der Arzt verschrieb Beruhigungsmittel, aber nichts half.
Weil wir damals nicht wussten, woher Claudias Behinderung kam, überlegten wir gut, ob wir ein zweites Kind bekommen sollten – und entschieden uns schliesslich dafür. Als Claudia viereinhalb war, kam Nicole kerngesund zur Welt. Doch der Alltag zehrte mich aus. Die Mädchen forderten mich rund um die Uhr. Mein Mann konnte mich kaum unterstützen, er war geschäftlich viel auf Reisen. Zwar nahmen meine Schwiegereltern Claudia oft zu sich, um mich zu entlasten.
Zudem besuchte sie eine heilpädagogische Schule – doch das waren nur einige Stunden am Tag. Ich fühlte mich stark unter Druck und hatte Angst, dass unsere Familie daran zerbricht. Schliesslich musste ich einsehen: Ich schaffe das kräftemässig nicht. Wir entschlossen uns darum schweren Herzens, Claudia in ein Sonderschulheim zu geben. Da war sie 9 Jahre alt. Ich hatte deswegen lange Zeit ein schlechtes Gewissen.
Heute lebt Claudia in einem Wohnheim mit Beschäftigungstherapie. Jedes zweite Wochenende hole ich sie nach Hause. Sie geniesst das Essen, Spaziergänge, ein wohliges Bad und meine Pflege. Aber am Sonntagabend freut sie sich auf ihre Mitbewohner und Betreuerinnen. Ich bin beruhigt, dass sie ein Zuhause gefunden hat, wenn ich einmal nicht mehr bin.
Rett-Syndrom: Dramatische Störung der Entwicklung
Auslöser des Rett-Syndroms ist ein verändertes Gen auf dem X-Chromosom. Eines von 10‘000 bis 15‘000 Kindern ist betroffen. Das Rett-Syndrom ist bei Mädchen die zweithäufigste geistige Behinderung nach dem Down-Syndrom. Männer können das Gen vererben, ohne selbst krank zu sein. Anfänglich entwickeln sich die Babys normal. Zwischen dem sechsten und achtzehnten Lebensmonat verlieren sie ihre erworbenen Fähigkeiten wieder. Die meisten Betroffenen leiden unter einer verkrümmten Wirbelsäule, Epilepsie und zeigen autistische Verhaltensweisen. Mit speziellen Bildern und Zeichen lernen sie, sich zu verständigen.
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