Das Juristenmagazin «Plädoyer» fragte im April den Zürcher Rechtsprofessor Andreas Kley: «Darf der Bundesrat im Abstimmungsbüchlein schreiben, was er will?» Die Antwort des Staatsrechtlers: «Nein, der Bundesrat darf nicht schreiben, was er will. Aber er kann es.» Grund: Es gibt keine rechtliche Kontrolle der Abstimmungsinformationen.

Das Bundesgesetz über die politischen Rechte formuliert zwar Leit­linien zur Abfassung des Abstimmungsbüchleins. Danach muss der Bundesrat eine «kurze, sachliche Erläuterung» geben, «die auch den Auffassungen wesentlicher Minder­heiten Rechnung trägt». Auch die Argumente von Initianten und Referendumskomitees müssen in den Informationen berücksichtigt werden.

Ob der Bundesrat diese Vorgaben erfüllt, kontrolliert niemand. Das Bundesgericht tritt auf Beschwerden gegen das Abstimmungsbüchlein konsequent nicht ein. Kley: «Der immer wieder erhobene Vorwurf, die Erläuterungen seien manipulativ und informierten falsch, ist spätestens seit dem Entscheid über die Unternehmenssteuerreform II bundesgerichtlich bestätigt.» 2011 hatten drei Stimmberechtigte beim Bundesgericht Beschwerde eingelegt, der Bundesrat habe im Abstimmungsbüchlein «unsachgemäss und unvollständig» informiert. Der Bundesrat selbst gab das zu. Dennoch wies das Bundesgericht die Beschwerde ab.

Zehn Seiten für Bundesrat, nur eine für Referendumsführer

Neustes Beispiel für die Manipulat­ion der Stimmbürger ist das Abstimmungsbüchlein zur Altersreform. Es beginnt schon bei der Darstellung: Die Erläuterungen von Bundesrat und Bundeskanzlei sind deutlich leichter lesbar als der Text der Initianten oder Referendumkomitees. Die Zeilen sind kürzer und mit Randbemerkungen versehen, farblich unterlegte Stellen streichen wichtigere Passagen heraus. Dem Referendumskomitee steht wie immer eine einzige Seite für seine Argumente zur Verfügung. Bundesrat und Bundesverwaltung breiten ihre Argumente auf zehn Seiten aus. 

Wer die Argumente der Regierung unter die Lupe nimmt, stellt fest: Diverse Informationen sind beschönigend oder falsch. Und gewisse Fakten werden verschwiegen:

Verschwiegene Fakten 

Nirgends steht, dass es AHV und Pensionskassen heute so gut geht wie noch nie. Die Reserven liegen bei beiden Säulen auf Rekordhöhe: Bei der AHV betragen sie Ende 2016 44,7 Milliarden Franken, obwohl der Bund noch im Jahr 2011 von der AHV 5 Milliarden an die IV überwiesen hatte. In der 2. Säule belaufen sich die Reserven Ende 2015 auf 116,4 Milliarden (saldo 4/2017)

Beschönigende Aussagen

«Die Reform schafft die Voraussetzungen für eine flexi­ble und schrittweise Pensionierung zwischen 62 und 70 Jahren» (Seite 16). Das tönt gut. Nur: Zurzeit ist in der 2. Säule schon eine Pensionierung mit 58 zulässig, wenn das Reglement der Kasse dies vorsieht. Neu wäre das erst ab 60 möglich. Die Reform erlaubt den Pensionskassen zudem, Rentenalter 70 einzuführen.

 «Künftige Rentnerinnen und Rentner sind weniger auf Ergänzungsleistungen (EL) angewiesen» (Seite 19). Denn, «wer nur eine bescheidene berufliche Vorsorge hat, erhält eine höhere Pensionskassenrente. Wer gar keine berufliche Vorsorge hat, erhält durch die erhöhte AHV-Rente ebenfalls eine Verbesserung.» Das ist richtig. Aber künftige Rentner mit EL-Anspruch müssen bei gleichem Einkommen neu mehr Steuern zahlen, weil die Renten steuerbar sind, EL hingegen nicht.

Falschinformationen

Die «finanzielle Stabilität» der Altersvorsorge sei «in Gefahr, weil geburtenstarke Jahrgänge in den nächsten Jahren das Pen­sionsalter erreichen, die Lebenserwartung steigt und die Zinsen ausgesprochen tief sind». Tatsache ist: Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen, dass die Lebenserwartung der 65-Jährigen seit 2010 stagniert oder höchstens noch ganz wenig steigt. Von 2014 auf 2015 sank sie bei ­Frauen und Männern sogar um jeweils 0,2 Jahre. 

Wegen der Generation der Babyboomer steigt zwar die Zahl der ­Rentner, doch deshalb gerät die AHV angesichts der Reserven nicht in Bedrängnis. Ab 2030 wird eine neue Generation von Babyboomern erwerbstätig sein und die Einnahmen der AHV erhöhen. Seit ein paar Jahren gehen nämlich die Geburtenzahlen deutlich nach oben. 2016 wurden in der Schweiz 87 883 Kinder zur Welt gebracht – so viele, wie seit 43 Jahren nicht mehr. Laut dem Bundesamt für Sozialversicherungen reicht die AHV-Reserve auch ohne Reform bis 2030. 

Das Zinsniveau ist seit ein paar Jahren tief, die Erträge der Pensionskassen waren trotzdem recht hoch. Die Lebensversicherer haben in der 2. Säule von 2008 bis 2015 einen Ertrag von durchschnittlich 3,58 Prozent erreicht (saldo 11/2017). 

In der 2. Säule gebe es eine «unfaire Umverteilung auf Kosten der Erwerbstätigen» (Seite 22). Diese müssten «einen Teil der laufenden Renten mitbezahlen» (Seite 16). Tatsache ist: Die Mehrheit der Versicherten bezieht mindestens einen Teil des Altersguthabens in Form von Kapital. Für Rentenbezüger gilt: Ein Ertrag von 3,5 Prozent auf ihrem Alterskapital genügt, um den heutigen Umwandlungssatz von 6,8 zu finanzieren. Dieser Ertrag wurde bisher im Durchschnitt mehr als erreicht. Viele Kassen ver­zinsen die Guthaben der Erwerbstätigen trotzdem schlecht. Mit der Differenz äufnen sie ihre Reserven. Das Geld kommt nicht den Rentnern zugut. 

Über 45-Jährige kaufen die Katze im Sack

Die finanziellen Auswirkungen der Altersreform für Leute ab 45, die sich frühzeitig pensionieren ­lassen wollen, sind unklar.

«Das Niveau der Renten soll erhalten bleiben.» 

So steht es im Abstimmungsbüchlein auf Seite 13. Das Problem: Frauen und Männer ab 45 haben bis zur Pensionierung nicht genügend Zeit, die geplante Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8 auf 6 Prozent zu kompensieren. Für sie gilt deshalb eine Schutzklausel. Sie garantiert der «Übergangsgeneration» gleich viel Geld aus der Pensionskasse wie bisher. 

Total haben 4,1 Millionen Erwerbstätige eine Pensionskasse. Davon sind 1,8 Millionen zwischen 45 und 64/65 Jahre alt. Das ist ein Anteil von 44 Prozent (siehe Grafik im PDF). Ob für sie die Besitzstands­garantie auch gilt, wenn sie sich frühzeitig pensionieren lassen, ist unklar. Denn im Bundesgesetz über die Reform der Altersvorsorge steht dazu nur: «Der Bundesrat regelt die Einzelheiten.»

Am 16. Juni 2017 schickte der Bundesrat eine entsprechende Verordnung in die Vernehmlassung. Zwei Varianten stehen zur Auswahl: «Besitzstands­garantie für Frühpensionierte Ja» und «Besitzstandsgarantie Nein». Die Vernehmlassung dauert bis zum 6. Oktober – zwei Wochen nach der Abstimmung zur Altersreform am 24. September! 

Für über 45-Jährige bedeutet dies: Sie kaufen die Katze im Sack.

Frühpensionierungen sind verbreitet. Gemäss der Pensionskassenstatistik 2017  des Finanzdienstleisters Swisscanto gingen im letzten Jahr 58 Prozent vor dem ordentlichen Rücktrittsalter in den Ruhestand. 33 Prozent liessen sich regulär pensionieren, 9 Prozent später.