Senioren am Steuer: Kein erhöhtes Sicherheitsrisiko
Jeder Autofahrer über 70 muss regelmässig zum ärztlichen Eignungstest. Studien zeigen, dass sich dadurch die Verkehrssicherheit nicht erhöht.
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saldo 07/2011
10.04.2011
Letzte Aktualisierung:
12.04.2011
Eric Breitinger
Eugen L. sorgt sich vor der nächsten Fahrtauglichkeitsprüfung bei seinem Hausarzt. Der 85-Jährige ist schlecht zu Fuss. Seit über 60 Jahren fährt er Auto und wohnt in einer Siedlung im Kanton Luzern, die keinen Busanschluss hat: «Ohne Fahrausweis wäre ich aufgeschmissen, ich müsste ins Heim umziehen», sagt er zu saldo.
Für viele ältere Lenker bedeutet der Test beim Hausarzt Stress. Denn der Staat verdächtigt sie als pot...
Eugen L. sorgt sich vor der nächsten Fahrtauglichkeitsprüfung bei seinem Hausarzt. Der 85-Jährige ist schlecht zu Fuss. Seit über 60 Jahren fährt er Auto und wohnt in einer Siedlung im Kanton Luzern, die keinen Busanschluss hat: «Ohne Fahrausweis wäre ich aufgeschmissen, ich müsste ins Heim umziehen», sagt er zu saldo.
Für viele ältere Lenker bedeutet der Test beim Hausarzt Stress. Denn der Staat verdächtigt sie als potenzielle Unfallverursacher. Nach dem Willen des Bundesrats müssen sich die über 70-jährigen Autofahrer seit 40 Jahren einer medizinischen Eignungsprüfung unterziehen.
Über 533 000 Lenker müssen in der Schweiz ihre Fahrtauglichkeit alle zwei Jahre vom Hausarzt überprüfen lassen. Das kostet jeweils rund 100 Franken. Für knapp 2000 Lenker pro Jahr endet der Test laut dem Bundesamt für Strassen negativ.
Die Ärzte sprechen ihnen die Fahreignung ab, und die Strassenverkehrsämter nehmen ihnen den Führerausweis weg. Tausende geben ihn altershalber freiwillig ab, besonders häufig sind dies Frauen. Das Bundesamt behauptet, die abgenommenen Ausweise seien «ein grosses Plus für die Verkehrssicherheit».
Ausländische Studien zeigen, dass Ältere die sicherste Gruppe sind
Wissenschaftliche Belege für ihre Behauptung können die Behörden nicht vorlegen. Bisher hat noch kein Forscher in der Schweiz die Wirkung der Massentests wissenschaftlich überprüft. Bundesamt, Politiker und Medien berufen sich bloss auf Statistiken, die zeigen, dass ältere Autofahrer mehr Unfälle pro gefahrenen Kilometer verursachen als jüngere.
Dieser Punkt ist jedoch nicht entscheidend, wie neue ausländische Studien belegen. Laut dem Europäischen Dachverband der Psychologenverbände sind «ältere Fahrer die sicherste Gruppe von Autofahrern».
Unfälle mit Älteren würden häufiger der Polizei gemeldet als Unfälle mit Jüngeren. Bei gleich schweren Unfällen werden ältere Menschen eher verletzt oder getötet als jüngere. Forscher schätzen, dass bis 95 Prozent des angeblich höheren Unfallrisikos von Senioren auf diesen Effekt zurückgehen.
Studien belegen zudem, dass Senioren im Durchschnitt weniger Kilometer fahren als Jüngere. Und sie sind häufiger auf Landstrassen und im Stadtverkehr unterwegs. Dort ist das generelle Unfallrisiko aber viel höher als auf Autobahnen.
Mehrere Studien haben die Unfallrate von Seniorenfahrern mit Lenkern mittleren Alters verglichen, die im Jahr gleich viele Autokilometer zurücklegen. Ergebnis: Die angeblich schlechten 70-plus-Fahrer bauen so wenig Unfälle wie die vermeintlich besten Fahrer.
Der Seniorenbericht der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) von 2006 bestätigt diesen Befund: Von 1992 bis 2004 starben bei Unfällen mit Junglenkern zwischen 20 und 24 Jahren pro Jahr 78 andere Verkehrsteilnehmer.
Bei Unfällen von Seniorenlenkern kamen im Durchschnitt 11 andere Verkehrsteilnehmer ums Leben. Beide Gruppen sind etwa gleich gross. Laut dem BFU-Bericht «wird die Anzahl der getöteten Verkehrsteilnehmer mit zunehmendem Alter der Lenker geringer». Denn über 70-jährige Fahrer trinken weniger Alkohol und fahren langsamer als jüngere.
Zwangstests bringen mehr Schaden als Nutzen
Da Senioren generell nicht unsicherer fahren, bringen auch die Reihenuntersuchungen nichts. Dutzende Studien haben die Wirkung von Senioren-Tests – von Australien bis Dänemark – untersucht.
Keine Studie konnte je einen Nutzen belegen. Laut dem österreichischen Unfallforscher Ralf Risser «bringen rein ärztliche Untersuchungen ohnehin wenig», um ein individuelles Unfallrisiko vorauszusagen. Bei Unfällen spielten viel mehr Faktoren eine Rolle als nur die Fahrleistung.
Testprogramme für Senioren scheinen sich sogar negativ auszuwirken. Eine Forscherin verglich Unfallzahlen von Finnland und Schweden. In Finnland müssen Lenker ab 70 regelmässig medizinische Fahrtauglichkeitstests über sich ergehen lassen, in Schweden sind diese freiwillig.
Resultat: In Finnland gab es dennoch mehr ältere Verkehrsopfer als in Schweden. Forscher halten dies für eine negative Folge der Zwangstests. Diese führten dazu, dass auch Senioren, die eigentlich sicher Auto fahren, ihren Ausweis abgeben, da sie sich keiner Untersuchung stellen wollen.
Die älteren Ex-Lenker fahren dann mehr Velo oder gehen mehr zu Fuss. Dabei sind sie jedoch weniger gut geschützt als im Auto und werden bei einem Verkehrsunfall eher verletzt oder getötet. Unter den 427 Senioren, die von 2005 bis 2009 auf Schweizer Strassen starben, waren denn auch 177 Fussgänger und 54 Velofahrer.
Sie machten zusammen 54 Prozent aller Verkehrstoten in der Gruppe der über 70-Jährigen aus. Zum Vergleich: Bei Autounfällen kamen 146 Senioren ums Leben.
Auffällige Lenker unabhängig vom Alter begutachten
Der Schweizerische Seniorenrat verlangt die Aufhebung der «diskriminierenden und willkürlichen Altersgrenze» für ärztliche Tests. Der Rat will gemäss seinem Mobilitätsexperten Ernst Widmer stattdessen eine «medizinische Begutachtung auffälliger Lenker, unabhängig vom Alter».
Ältere Lenker können selbst etwas tun, um ihre Fahrkünste zu verbessern. Der TCS bietet Schulungen an. Wer an seiner Fahrkompetenz zweifelt, kann die Dienste eines von 180 speziell geschulten Fahrlehrern in Anspruch nehmen. Sie begleiten Ältere bei einer Fahrprobe und beurteilen ihre praktischen Fahrkünste.