Die Invalidenversicherung (IV) steht unter Sparzwang. Der Bundesrat verlangte vor rund fünf Jahren, 12 500 Vollrenten abzubauen oder 17 500 Rentner in den Arbeitsmarkt einzugliedern (saldo 12/2011). Die Regierung hatte vor allem Bezüger im Blick, die an organisch nicht nachweisbaren Schmerzen und psychischen Krankheiten litten. Ihre Renten sollten sinken oder gestrichen werden.
Der «Erfolg» des Spardiktats: Die Zahl der IV-Renten sank zwischen 2010 und 2015 von 197 000 auf 177 500. Knapp 20 000 IV-Rentner verloren in diesen sechs Jahren ihre wirtschaftliche Lebensgrundlage. Denn nur 160 Rentenbezüger fanden neue Jobs (saldo 1/2016).
Jetzt zeigt eine Untersuchung erstmals, was mit den ausgemusterten psychisch kranken IV-Bezügern passiert. Die Psychiaterin Doris Brühlmeier Rosenthal aus Schlieren ZH wertete die Daten von 402 IV-Antragstellern oder ehemaligen Bezügern in den Kantonen Aargau und Zürich aus. Die Daten stammen aus psychiatrischen Praxen in diesen Kantonen. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, aber aussagekräftig:
93 Prozent der Patienten, deren IV-Rente aufgehoben wurde, sind heute vom Sozialamt abhängig (siehe Grafik). Bei den Patienten, deren Antrag auf eine Rente von der IV abgelehnt wurde, sind es 60 Prozent.
Nur 5 Prozent der ehemaligen Rentner oder erfolglosen Antragsteller sind heute erwerbstätig.
Nach der Erfahrung der Psychiaterin sind Negativ-Bescheide aufgrund ärztlicher Gutachten in der Regel ungerechtfertigt: «Die Patienten sind psychisch krank, bekommen aber aufgrund des politisch gewollten Sparzwangs von der IV keine Rente.»
Die Folgen sind für die Patienten verheerend: Sie verlieren nicht nur die Rente der IV, sondern auch den Anspruch auf eine Invalidenrente der Pensionskasse (PK) und Ergänzungsleistungen (EL). Nicht einmal die Pro Infirmis darf ihnen helfen, da die Stiftung nur für IV-Rentner zuständig ist. Es bleibt bloss noch der Gang zum Sozialamt. Fazit: Die Invalidenversicherung spart Geld – die Kosten muss der Steuerzahler übernehmen.
Erwerbstätigkeit steigt nicht, sondern sinkt massiv
Brühlmeier kritisiert die Folgen dieser Politik: Viele der Kranken würden aufgrund des negativen IV-Bescheids noch mehr psychische Probleme entwickeln und seien bald kränker als zuvor. Demgegenüber wirkt ein positiver Rentenbescheid nach den Erfahrungen der Psychiaterin oft als «Segen»: Gemäss ihrer Untersuchung gehen 36 Prozent der Vollrentner und 48 Prozent der Teilrentner einer teilweisen Erwerbsarbeit nach. Brühlmeier sagt: «Eine IV-Rente erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Erwerbstätigkeit.»
Die Psychiaterin fordert: «Wir müssen die IV so reformieren, dass alle schwer psychisch, neurologisch und psychosomatisch Kranken, die eine Rente brauchen, sie auch bekommen.» Es gelte, die Zahl der IV-Gutachten «massiv zu reduzieren».
Laut Brühlmeier gibt die IV jedes Jahr rund 80 Millionen Franken für neue Gutachten aus, obwohl pro Patient bereits bis zu 35 Arztberichte vorliegen. Mit dem gesparten Geld liessen sich pro Jahr 4500 IV-Renten finanzieren. Die von der IV zu Unrecht ausgemusterten Patienten müssten unkompliziert ihre Rente zurückerhalten und eine Wiedergutmachung bekommen.