Merlin Guggenheim hat seine Ernährung komplett umgestellt: «Ich esse nur noch ganz wenig Weizenprodukte», sagte der Zürcher Chirurg unlängst in der Sendung «Sprechstunde» auf Radio 1. Brot, Guetsli, Pizza und Pasta hat er weitestgehend von seinem Speiseplan verbannt. Er sagt: Das Getreide sei in den letzten Jahren genetisch so verändert worden, dass es nach immer mehr Weizenprodukten süchtig mache, den Blutzuckerspiegel belaste und «übermässig genossen ein problematisches Lebensmittel sei». Auch für gesunde Menschen.
Guggenheim ist nicht der Einzige, der den Weizen verteufelt. Viele Ernährungsfachleute, aber auch Naturheilpraktiker und Buchautoren finden sich in den Reihen der Weizenkritiker, die sich in den vergangenen Jahren vor allem im Internet breitmachen.
Auslöser dieser Antiweizen-Kampagne sind die beiden US-amerikanischen Mediziner William Davis und David Perlmutter. Ihre Bücher «Weizenwampe» und «Dumm wie Brot» sind Bestseller. Sie machen das Getreide auch für Fettleibigkeit, Entzündungen, Alzheimer, Diabetes, Bluthochdruck, Rheuma und Nervenkrankheiten verantwortlich. Grund: die vielen Chromosomen im Hochleistungsweizen. Alte Sorten hatten nur gerade 12 Chromosomen. Moderne Sorten haben im Laufe der Zuchtverfahren die Chromosomen auf 42 vermehrt. Damit produziere der heutige Weizen auch viel mehr neue Eiweisse, die den menschlichen Körper überforderten.
Doch solche Thesen sind unter Experten umstritten. Dario Fossati, Weizenexperte beim Kompetenzzentrum des Bundes für landwirtschaftliche Forschung, Agroscope, sagt: Ein Züchter könne gar keine neuen Eiweisse entwickeln, da er nur die Gene der verwendeten Mutterpflanzen zusammenführe. Und die stammten ja allesamt von alten Weizensorten ab.
Auch das unabhängige deutsche Fachblatte «Gute Pillen – Schlechte Pillen» hat dieses Argument geprüft und kommt zum Schluss: Es gibt keinen Beleg, dass «heute üblicher Hochleistungsweizen prinzipiell gesundheitsschädlich ist». Lediglich die Zusammensetzung der Eiweisse habe sich durch die Züchtung verändert, sodass manche Menschen darauf vielleicht empfindlicher reagieren.
Wissenschaftlicher Nachweis fehlt
Fachleute bezweifeln auch, dass der Weizen beim Verdauen Substanzen freisetzt, die das Gehirn so manipulierten, dass es nach immer mehr Weizen verlang – mit der Folge von Entzugserscheinungen wie bei einem Opiat. Tierversuche wiesen zwar darauf hin. «Gute Pillen – Schlechte Pillen» kritisiert, dass die Autoren die «Tierversuche in wissenschaftlich unzulässiger Weise auf den Menschen» übertragen hätten. Die renommierte Ernährungswissenschafterin Julie Jones von der St. Catherine University in St. Paul im US-Bundesstaat Maine schreibt im Fachblatt «Cereal Food World», auch andere Lebensmittel würden solche potenziell abhängig machende Substanzen im Körper produzieren. Ob sie die Kontrolle über das Essverhalten beeinflussen, habe jedoch noch niemand untersucht.
Gewichtsverlust ist ein Nebeneffekt
In der Tat kann man zwar abnehmen, wenn man auf Weizenprodukte verzichtet. Weizen enthält Kalorien. Unklar ist allerdings, ob tatsächlich der Weizen der Grund ist. Für die Experten von «Gute Pillen – Schlechte Pillen» ist der Gewichtsverlust lediglich ein Nebeneffekt. Denn Weizen steckt in vielen Nahrungsmitteln und Fertigprodukten, die auch Zucker und Fette enthalten. Verzichte man auf Weizen, würde man «viele Süssspeisen und Fertigprodukte» auch nicht mehr konsumieren. Zudem: Nehme jemand ab, verbesserten sich Diabetes und andere Krankheiten sowieso, das zeigten Studien. Um abzunehmen, müsse man also nicht zwangsläufig auf Weizen verzichten, so die US-Forscherin Julie Jones. Man müsse einfach weniger Kalorien zu sich nehmen.
Experten bezweifeln auch, dass Weizen Entzündungen auslöst und damit zu Rheuma und anderen Krankheiten führt.
Für den Entzündungsexperten Detlef Schuppan von der Universität Mainz sind das «Halbwahrheiten, die aus dem Kontext genommen werden». Der Arzt fasste in der Juni-Ausgabe des Fachblatts «Gastroenterology» den gegenwärtigen Stand der Forschung zusammen.
Schuppans Fazit: Zwar könnten bestimmte Eiweisse aus den Hochleistungsgetreidesorten vermutlich Entzündungsstoffe im Körper aktivieren. Doch auch dies sei nur in Tierversuchen belegt. Für den Grossteil der Bevölkerung sei eine Ernährung ohne Weizen jedoch weder besonders gesund noch besonders schädlich, sagt Schuppan: «Die meisten vertragen Weizen sehr gut.»
Bislang gilt nur als gesichert, dass das Weizen-Eiweiss Gluten bei etwa 5 von 1000 Personen im Darm eine entzündliche Krankheit auslöst, die Zöliakie (siehe PDF). Betroffene müssen Gluten komplett meiden. Der Zöliakie-Experte Stephan Vavricka vom Zürcher Stadtspital Triemli hält es jedoch für «Mumpitz», dass Gluten Adipositas, ADHS und andere Krankheiten auslösen könne. Er beschäftigt sich seit langem mit dem Thema. «Die bisher publizierten Studien zeigen hierfür keine Evidenz», hält er fest.
Manche reagieren bloss etwas empfindlich
Von einer echten Weizenallergie, die das Immunsystem durcheinanderbringt, sind vermutlich nur sehr wenige Menschen betroffen. Sie reagieren mit Erbrechen, Durchfall, Kopfschmerzen oder Müdigkeit. Eine Allergie erkennt der Arzt durch einen Bluttest.
Auch wie viele Menschen den Weizen schlecht vertragen, ist ungewiss. Untersuchungen aus den USA gehen von 6 bis 60 «Weizensensitiven» pro 1000 Einwohner aus. Zahlen aus der Schweiz gibt es nicht. Der Darm dieser Personen entzündet sich im Gegensatz zu Zöliakie nicht, sie haben trotzdem nach dem Konsum von Weizen rasch Durchfall und Bauchschmerzen. Zudem leiden sie auch an Symptomen wie Schläfrigkeit, Migräne, Benommenheit, Hautausschlag sowie Muskel- und Gelenkschmerzen. Einen zuverlässigen Test zum Nachweis der Unverträglichkeit gibt es bislang nicht.
Gesundheitstipp-Arzt Thomas Walser hält wenig von der Theorie, dass ein Nahrungsmittel alleine an so vielen Symptomen schuld sein könne: «Das ist wenig plausibel.» Die Autoren von «Gute Pillen – Schlechte Pillen» warnen, dass die Theorie viele Menschen verunsichere. Sie schränkten sich dadurch in ihrer Lebensqualität unnötig ein, ohne einen Beweis dafür zu haben, dass sie sich damit wirklich etwas Gutes tun.
Arzt Merlin Guggenheim lässt sich von den Einwänden nicht beeindrucken: «Das ändert für mich nichts.» Die Buchautoren William Davis und David Perlmutter äusserten sich auf Anfrage des Gesundheitstipp nicht.